Die Grenzen der Wahrnehmung verschieben

Die Riesenkakteen in der amerikanischen Wüste nahe Las Vegas haben eine unheimlich wirkende baumähnliche Gestalt. Solche Naturdokumentationen wie die eben gerade gesehene eröffnen einem unglaublich erscheinende Einblicke in die Vielfalt unserer Erde, von der wir ohne Reisen und mediale Vermittlung immer nur diesen kleinen Ausschnitt in unserem Lebensbereich wahrnehmen. Aber auch in diesem vergleichsweise kleinen Ausschnitt ist unendlich viel zu entdecken. Es ist mir eigentlich immer schon, auch bevor das Baumtagebuch vor über 11 Jahren startete, ein Bedürfnis gewesen, diese Vielfalt im eigenen Wahrnehmungshorizont und die Faszination beim genauen Blick auf Details für mich und zum Teil auch für andere festzuhalten. Das kann helfen, immer genauer hinzusehen, immer mehr z. B. auf den gleichen Wegen wahrzunehmen. Vielleicht auch einfach bewusster zu sein beim Sich-Bewegen in der Landschaft. Alles in sich aufzunehmen, was vielleicht ohne diese Übung unbeachtet und damit scheinbar wertloser vorüberzieht. Auch bei uns gibt es vieles zu entdecken. Nach meinem Eindruck eröffnet diese Erkenntnis endlose Horizonte. Die Intensität und Tiefe der Wahrnehmung könnte vermutlich nie an eine Grenze kommen, wenn uns die eigene Wahrnehmungsfähigkeit nicht regelmäßig Grenzen auferlegen würde. Diese immer weiter zu verschieben, ist eine reizvolle Herausforderung.

Ein weiteres Intermezzo

Über den bevorstehenden Regen werden sich die Pflanzen in den nächsten Tagen sicher freuen. Das gibt Zeit zur Erholung und zur Kräftigung der ersten Anstrengungen beim Grünen und Blühen. Aber die kühlen Temperaturen, besonders bei Nacht, wenn die Nullgradmarke erreicht werden kann, könnten einigen Blüten zum Verhängnis werden. April eben, könnte man sagen. Aber der letztjährige war im Gegenteil sehr sonnenreich. Und nach den so wunderbar hellen Tagen hätte man sich Kontinuität gewünscht. Stattdessen wieder ein Intermezzo bis mindestens Mitte nächster Woche. Ich hoffe sehr, dass der Weißdorn, bei dem ich an manchen Sträuchern bereits die weißen Blütenköpfe in geschlossener Form gesichtet habe, es schafft, sich so lange zu schützen. Um die Frühtracht wäre es jammerschade, gerade jetzt, wo die Bienenvölker so stark und munter sind.

Sonnentag mit Gartenplänen

Ein Einundzwanzigster, wie er im Buche steht. Gemessen an der Solarstromeinspeisung dürfte das der bisher sonnenreichste Tag des Jahres gewesen sein. So könnte es nun weitergehen. Denn dann macht die Arbeit im Garten am meisten Freude. Und da steht so einiges an. Neben der Vorbereitung der Blumenkübel und –tröge, den Aussähversuchen im Frühbeet für Strohblumen und Baumschnittarbeiten, steht auch die jährliche Frühjahrsaufräum- und Säuberungsaktion im Garten bevor. V. hat für den Zweck schon eine neue Gummihose gekauft, als Spritzschutz für das stundenlange Handhaben des Hochdruckreinigers. So ein Wetter wie heute wäre dafür ideal. Aber am Wochenende wird das wohl noch nichts, denn die Vorhersagen gehen eher in Richtung einer Abkühlung, was wohl eine Unterbrechung der Schönwetterphase bedeutet. Hoffentlich startet der Frühling danach richtig durch und wir können einmal an begonnen Arbeit dran bleiben. Mit den wachsenden Farbanteilen im Eindruck der Baumlandschaft können wir dann auch mehr eigene Energie mobilisieren und nach außen richten.

Frühlingswärme und Blühlücke

Die Sonne hat uns heute wieder viel Licht geschenkt, und wenn man sich in ihr bei offenem Himmel bewegt, auch schon angenehme Frühlingswärme. Dem gegenüber stehen immer noch kalte Nächte, die manchmal bis knapp über den Gefrierpunkt reichen. Ich hoffe, die frisch eingesäten Strohblumensamen werden dabei keinen Schaden nehmen. Ich fände es toll, wenn es uns gelingt, sie selbst zu ziehen, statt im Sommer die fertigen zu kaufen. M. bat mich, ihr vom Spaziergang etwas Blühendes mitzubringen. Das ist zurzeit allerdings wirklich schwierig, da sich bei den Bäumen gerade eine Blühlücke aufgetan hat. So sind es ersatzweise einige Wiesenblumen geworden, die sich zum blühenden Löwenzahn gesellt haben. Wenn demnächst die Apfelblüte richtig durchkommt und anschließend sich der Weißdorn bemerkbar macht, steht bei günstiger Witterung die erste Hochzeit der Bienen in Sachen Nektarsammeln bevor.

Neues Wunschbaum-Armband: Mirabellenbaum

Die Oberfläche seines Holzes wirkt so wild und kraftvoll wie der Mirabellenbaum selbst. Mirabellen gehören seit jeher zu meinen Lieblingsfrüchten. Und die Bäume haben für mich eine ganz eigene Ausstrahlung, die sich von der anderer Obstbäume unterscheidet. Vielleicht sind die Mirabellenbäume noch stärker mit ihren Früchten identifiziert und treten uns als Fruchtbäume ins Bewusstsein, sind uns auch als solche erinnerlich. Es freut mich, jetzt das Musterarmband aus dem lebendig, warm und abwechslungsreich wirkenden Holz eines eigenen alten Mirabellenbaums fertiggestellt zu haben. Eine schöne Erweiterung meiner Reihe von Wunschbaum-Armbändern.

Wunschbaum-Armband Mirabellenbaum

Vegetabile Beobachtungen bei tief stehender Sonne

Der Spaziergang in der späten Nachmittagssonne hat den Frühling heute so richtig spürbar gemacht. Es liegt bereits in der Luft, dass er in der nächsten Woche durchstarten wird. Jetzt entwickelt sich alles viel schneller in Richtung Grün und Blühen. Faszinierend die Plastizität der jungen, noch ganz kleinen und dicht zusammengefalteten Blätter der Hainbuche, deren filigrane Textur in keinem Wachstumsstadium deutlicher erkennbar ist. Auch die Heckenrosen schießen ihre Blätter hervor, während der Schlehdorn die Regenphasen der letzten Tage nicht gut verkraftet hat. Vorgestern noch in strahlend weißer Blüte, ist die Pracht sehr schnell vergangen. Zum größten Teil schon verblüht, mit abgefallenen Blütenblättern oder ersten bräunlichen Verfärbungen präsentieren sich dessen Blütenstände. Beim Spitzahorn habe ich erstmals etwas beobachtet, was mir bisher so noch nicht bewusst war, obwohl ich diese Art seit Jahren im Blick habe: Die jungen Blätter, die erst dieser Tage sichtbar werden, etwa eine Woche nach den Blütenständen, stehen an denselben Triebenden wie die Blüten, nur sozusagen eine Etage tiefer, kreisförmig unterhalb der Blütenstängel. Sie wirken wie kleine Sträuße, um die sich zunächst unauffällig, später mit Verwandlung der Blüten immer dominanter die fächerförmigen Blätter gruppieren. In diesem Stadium aber ist von den Fächern noch nichts zu sehen. Ganz zarte, noch weitgehend zusammengefaltete, aber ihre Struktur schon erkennbar machende Blattgebilde sind es noch, die aber schon in wenigen Tagen die Bäume in voluminösem Grün erscheinen lassen werden. Dann werden die Blüten im Blätterwald untergehen und kaum noch von diesem zu unterscheiden sein, bis sich sehr viel später die ganz anders geformten Flügelfrüchte an deren Stelle bemerkbar machen.

Dominanter Spitzahorn

Interessant ist es, dass man gerade bei Autobahnfahrten einen besonders guten Überblick über den Entwicklungsstand der Baumlandschaft gewinnt. Gerade weil man sich dabei schnell durch wechselnde Landschaftsstriche bewegt und so Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser wahrnimmt. Im Gesamten wirkte das Grün heute schon stärker, konnte man an der farblichen Auflockerung des bisherigen Grau-Braun erkennen, wie sich das Baumgrün allmählich in Szene setzt. In der Nahsicht sind es aber noch nicht viele Arten, die dafür verantwortlich sind: Die Hainbuchen mit Laub und Kätzchen, die Haselsträucher mit den schon offenen Kätzchen und den frischen Blättern, die Wildkirschen mit weißen Blüten, die dicht blühenden Schwarzdornhecken und allen voran die Spitzahorne, die an dem typischen, intensiven Gelbgrün ihrer an Broccoli erinnernden Blüten zu erkennen sind. Dass dieses Blütengrün so dominant sein kann, zeigt, wie verbreitet diese Art in unserem Landstrich ist. Das hätte ich eigentlich so nicht erwartet. Es kann sein, dass die Eindrücke der Baumlandschaft jahresabhängig schwanken, einfach weil nicht immer die gleichen Arten zur gleichen Zeit auf demselben Stand wie im Vorjahr sind. Ich würde sagen, gerade die Ahorne sind dieses Jahr ziemlich spät dran. Jedenfalls kann ich mich an Jahre erinnern, in denen sie bereits Mitte März zu sehen waren. Dieses Mal also sehr deutlich, weil es sonst noch nicht so viel Grünes gibt. In der kommenden Woche wird sich das sicher explosionsartig ändern. Dann wird das Gleichzeitige des Grünens und Blühens vieler Arten die Zuordnung zu der einen oder anderen schwieriger gestalten als jetzt.

Richtiges zur richtigen Zeit

Immerhin längere sonnige Abschnitte als erwartet hat dieser Tag gebracht. Interessanterweise erwische ich für die Arbeit im Freien immer die richtigen Zeitphasen, wenn nämlich die Sonne zum Vorschein kommt. Scheint so, dass ich dafür einen siebten Sinn habe, denn häufig ist sie zu dem Zeitpunkt, zu dem ich es beschließe, noch nicht sichtbar. Die richtige Arbeit in der richtigen Situation. Das ist etwas, was eigentlich in allen Bereichen sinnvoll und wünschenswert ist, auch außerhalb der Arbeit mit Holz und anderen Naturmaterialien, die einen deutlichen Bezug zum Sonnenlicht haben. Aber es ist eben nicht immer möglich, jedenfalls sagen wir uns das, sich rein nach Intuition und inhaltlicher Stimmigkeit zu richten. Da greift meist doch das formale, zielorientierte Denken, dessen Grundprinzip es ist, ein Vorhaben in einer bestimmten Frist abzuschließen, egal wie günstig die Bedingungen sind. Eine der Krankheiten unserer Arbeitswelt, die wahrscheinlich unserer Gesundheit alles andere als zuträglich ist.

Pflanzen aus Samen ziehen

Nun soll der Frühling also nächste Woche erst durchstarten. Auch gut, es sind ohnehin noch jede Menge Indoor-Projekte umzusetzen, unter anderem eine kunsthandwerkliche Arbeit mit Walnuss und Apfelbaum, deren letzte Arbeitsschritte dann eben weiterhin im Keller erledigt werden. Ab nächster Woche hoffe ich aber mit diesem Arbeitsplatz ins Freie ziehen zu können. Bis zum Wochenende will ich aber noch einige Gartenarbeiten erledigen. Zum Beispiel die neuen Strohblumensamen teils im Garten, teils in kleinen Töpfen für die Fensterbank zu säen. Dafür ist das feuchte Wetter vielleicht sogar besonders geeignet. Im Garten wollen wir es mit den großblütigen versuchen, und die kleineren Blüten, die auch weniger hoch wachsen, sollen später in Kübel umgesetzt werden. Spannend bleibt es aber abzuwarten, ob sie überhaupt angehen. Mit selbst aus Samen gezogenen Pflanzen haben wir in den letzten Jahren nicht immer die glücklichste Hand. Pflänzlinge dagegen kamen fast immer durch. Ich bin gespannt, ob es diesmal gelingt, da der eine im Sommer letzten Jahres gekaufte Strohblumenstock sich so üppig entwickelt hatte und ich genau wie M. diese Blumenart sehr mag.

Pläne für die Freiluftsaison schmieden

Die Menschen freuen sich alle auf den Frühling. Was an der gelösteren Stimmung zu merken ist. Und daran, dass sie sich auch durch den Regen und die Schwankungen nicht die Laune verderben lassen. Das ist ein Zeichen dafür, dass man den Winter im Kopf endgültig hinter sich gelassen hat. In den Medien nehmen Gartenthemen wieder breiteren Raum ein. Und überall werden Pläne für die Freiluftsaison geschmiedet. Das werden sicherlich arbeitsreiche Wochen werden, in denen die Außenarbeit wichtiger und die Innenarbeit motivierter werden kann. Wir sind eben biologische Wesen, deren innere Verfassung sehr stark von den Entwicklungen im natürlichen Außen abhängt, so wie es sich im Wachstumszyklus der Bäume so augenfällig manifestiert und darin beispielhaft abgelesen werden kann.

Baumszenen im Frühling

Das Aprilwetter kam erst am Nachmittag. Zuvor konnte man sehr schön beobachten, wie sich der Frühling langsam in Szene setzt. Das Auffalten der Blätter, das stolze Strahlen verschiedener Blütenstände. Beim Schlehdorn ist das zurzeit ein richtiges Blütenmeer in Weiß.

Blühender Schlehdorn

Kaum zu glauben, dass an Stelle dieser auffällig roten Blüten später die hutzeligen Mispelfrüchte entstehen:

Blühender Mispelstrauch

Die Spitzahornblüte fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Wahrscheinlich wegen der irren gelb-grünen Färbung und der irgendwie an Kohl erinnernden Blütenformen:

Spitzahornblüte

Frühlingsstationen

In der Fernsicht ist die Baumlandschaft immer noch vom Grau-Braun geprägt. Aber von Nahem, vor allem den frühen Sträuchern gegenüberstehend, macht sich der Frühling doch schon deutlich Raum, mit einem zunehmenden Anteil frischen Grüns und neuer Blüten. Am deutlichsten sind mir heute der Schlehdorn in seiner vollen weißen Blütenpracht und der Spitzahorn mit den gegenteilig dezenten grün-gelblichen Blütenständen begegnet. Letztere will ich morgen noch einmal fotografisch festhalten. Das gehört in jedem Frühling zu meinem Standardprogramm, einfach weil mich diese wie junges Laub wirkenden Blüten so faszinieren. Übrigens treten die in diesem Jahr an den Bäumen, die ich sichten konnte, nicht gleichzeitig mit den Blättern auf. Sonst waren Blätter und Blüten eher gleichzeitig zu sehen. Bei den Blättern der übrigen Sträucher und Bäume hat sich in den letzten acht Tagen nicht so viel verändert. Die Hainbuche tritt fast auf der Stelle, der rote Hartriegel zögert immer noch, und auch bei den Heckenrosen ist noch kein ausgebreitetes Laub zu erblicken. Nur der Weißdorn hat jetzt schon sein üppiges Blätterkleid ausgebreitet. Ich hoffe jetzt mit V. auf eine stabile Wetterlage und anhaltende Wärme, damit pünktlich zum Beginn der Weißdornblüte optimale Bedingungen für die Bienen vorliegen.

Frühlingserleben und symbolische Spiegelung

Die Atmosphäre dieses Tages erinnert mich an meinen Arbeitseinsatz in der Großstadt, vor 8 Jahren. Der begann in der Osterzeit und dauerte einen langen und durchgehend sonnigen Frühling lang. Eigentlich ideale Bedingungen, zudem mit vielen Feiertagen zwischendrin, waren das damals, die den Großstadttrubel ausgleichen konnten und mir die Zeit dort angenehm gestaltet haben. Interessant, dass gerade diese Frühlingsluft, die besondere Temperaturverteilung im Tagesverlauf, die so typisch ist für diese Jahreszeit, für mich mit dieser Phase fest verknüpft bleibt. Wahrscheinlich sind es gerade diese biologisch wirksamen Einflüsse, die sich dem emotionalen Gedächtnis einprägen. Ein Ansatzpunkt mehr, in der Beschäftigung mit Naturwesen wie den Bäumen mehr zu sehen als bloß die naturwissenschaftliche Betrachtung von Lebewesen, die ihre Lebensenergie durch Photosynthese reproduzieren. Diese Beschäftigung ist Bestandteil unserer Wahrnehmung der Jahreszeiten und damit auch der Wahrnehmung unserer eigenen Körperlichkeit. Das geht weit über das einfache Parallel-Setzen der Physiognomie von Mensch und Baum hinaus. Es scheint mir eher so, dass diese Koexistenz von Mensch und Baum beiden ermöglicht, sich im Lebenslauf weiterzuentwickeln. Für die Menschen geschieht dies über eine Spiegelung ihrer selbst, ihrer Befindlichkeit, Emotionalität und Wahrnehmung, im Werden, sich Entwickeln und Vergehen der eigentlich fremden Spezies, die sich immer wieder als verlässlicher Lebenspartner mit großer symbolischer Tiefe und emotionaler Kraft bewährt.

Persönliches Baumtagebuch von Bernhard Lux: Täglich begegne ich den Bäumen auf vielfältigen Wegen. An ihrem jeweiligen Standort in der Natur, in der Lektüre von Baum- und anderer Literatur, in der alltäglichen Reflexion, der handwerklichen Arbeit und im Gespräch mit der Familie oder Freunden und Kollegen. Es ist mir ein Bedürfnis, diese themenbezogenen Beobachtungen, Interaktionen und Kommunikationen in Form des Baumtagebuchs zu dokumentieren. Seit dem 20. November 2004 habe ich keinen einzigen Tag ausgelassen – ein Zeichen dafür, dass das Baumthema und der Baum als Archetypus tatsächlich im Alltagsleben verankert ist und vielfältige inhaltliche Assoziationen ermöglicht. So mag dieses Baumtagebuch jeden seiner Leser/innen auf die Spur einer je eigenen Beziehung zu den Bäumen führen.